„Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.“ (Karl Popper)
Steht der europäische Sozialstaat vor einer Revolution? Alte sozialpolitische Glaubenssätze scheinen nicht mehr zu gelten. Manche träumen wieder einmal den schönen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. In Deutschland ist man bisher allerdings über theoretische Diskussionen nicht hinausgekommen. Die Schweiz ist schon ein Schritt weiter. Ein Volksentscheid soll möglichst bald Klarheit bringen. Für Deutschland werden monatliche Beträge zwischen 500 und 1.000 Euro pro Person diskutiert. Das ist nur der Anfang. 1.500 Euros sollen es künftig schon sein. Die schweizerischen Initiatoren wollen heute schon mehr. 2.550 CHF für Erwachsene und 625 CHF für Kinder sind angedacht. Eine Familie mit zwei Kindern käme so auf ein gesichertes Jahreseinkommen von 75.000 CHF ganz ohne Gegenleistung. Wäre damit der mühsame Kampf gegen die Armut ein für alle Mal entschieden?
Versagt der traditionelle Sozialstaat?
Die Renaissance der steinalten Idee einer negativen Einkommenssteuer kommt nicht von ungefähr. Globalisierung und technischer Fortschritt haben in den letzten Jahrzehnten weltweit nicht nur mehr Wohlstand gebracht. Sie haben auch mit dazu beigetragen, dass die Einkommen ungleicher verteilt werden. Vor allem am oberen Ende sind die Einkommen stark gewachsen. Zumeist stellen sich die Einkommensbezieher unten absolut nicht schlechter. Allerdings hat die relative Armut an Gewicht gewonnen. Und das zählt in einer Demokratie. Die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens kreiden es dem traditionellen Sozialstaat an, dass er dieses Problem nicht in den Griff bekomme. Sie nehmen es ihm auch übel, dass er die Transferempfänger auf Bedürftigkeit überprüft. Das sei „entwürdigend“, unangemessen und mache die Menschen „unfrei“.
Weitere Kritik zieht die Sozialstaatsbürokratie auf sich. Sie sei ineffizient und wenig treffsicher. Tatsächlich ist die staatliche Umverteilung verworren, die Ziele inkompatibel. Fast 40 Stellen bieten über 150 Sozialleistungen an. Dabei weiß oft die eine Hand nicht, was die andere macht. Die Abstimmung ist zeitintensiv und extrem bürokratisch. Das gilt auch für die Kontrolle. Oft gehen sie auf Kosten der Anspruchsberechtigten. Und noch etwas ärgert nicht nur die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die vielen sozialen Leistungen produzieren „Umkippeffekte“. Oft nicht harmonisierte Einkommensgrenzen stellen Individuen bisweilen schlechter, wenn ihr Erwerbseinkommen nur leicht ansteigt. Die Anreize für das Arbeitsangebot sind verheerend. Ein bedingungsloses, existenzsicherndes Grundeinkommen würde mit einem Schlag alle diese Probleme lösen.
Dieser Schritt würde allerdings die Grundsätze des Sozialstaates auf den Kopf stellen: Das Prinzip der Subsidiarität und der Leistungsgerechtigkeit. Eigenverantwortung steht an erster Stelle. Erst wenn der Einzelne überfordert ist und auch die Familie nicht helfen kann, springt der Sozialstaat hilfsweise ein. Allerdings ist eine ungleiche Verteilung der Einkommen akzeptabel. Es gilt das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Der Sozialstaat garantiert nur ein Existenzminimum. Diese Garantie gilt unabhängig davon, ob jemand unverschuldet oder durch eigenes Zutun in Not geraten ist. Sie wird aber nur gewährt, wenn Individuen bedürftig sind. Die Hilfe des Staates ist nicht umsonst. Der Transferempfänger muss eine Gegenleistung erbringen. Bei Erwerbsfähigen wird erwartet, dass er eine angebotene Arbeit annimmt und der Gemeinschaft nicht weiter zur Last fällt.
Ein nur schwer lösbares Problem der staatlichen Garantie eines Existenzminimums liegt in den allokativen Risiken und Nebenwirkungen. Das deutsche Arbeitslosengeld II ist ein Musterbeispiel. Es wird arbeitsfähigen Arbeitslosen gewährt, unabhängig davon, ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht. Der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, ist gering. Eine Transferentzugsrate zwischen 60 und 85 % vermindert die Anreize weiter. Der Konflikt zwischen Allokation und Verteilung ist ungelöst, es ist schwer, der Armutsfalle zu entkommen. Der amerikanische EITC ist weiter. Einkommen werden nur aufgestockt, wenn man einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Andernfalls erhält man die weit weniger hohe Sozialhilfe und wird verpflichtet, gemeinnützige Tätigkeiten (workfare) auszuüben. Allerdings ist der Bezug der Sozialhilfe lebenszeitlich auf maximal fünf Jahre begrenzt.
Elemente eines bedingungslosen Grundeinkommens
Die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens glauben, dass es gelingt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Das Problem der Armut soll endgültig gelöst, das Arbeitsangebot hingegen nicht negativ beeinflusst werden. Der Zielkonflikt zwischen Allokation und Verteilung, der Generationen von Ökonomen umtreibt, würde ein für alle Mal gelöst. Wie sieht nun diese sozialpolitische Wunderwaffe konkret aus? Sie hat einen harten Kern. Er besteht aus einem bestimmten Betrag, den alle Personen bedingungslos vom Staat erhalten. Die Vorschläge für Deutschland liegen zwischen 500 und 1.500 Euro pro Person, für die Schweiz sind höhere Beträge vorgesehen. Die finanziellen staatlichen Transfers können entweder als Sozialdividende oder als negative Einkommensteuer ausbezahlt werden. Ihre distributiven Wirkungen sind mehr oder weniger identisch.
Mit diesem Betrag sollen die meisten steuer- und beitragsfinanzierten Leistungen des Sozialstaates abgegolten werden. Das gilt für die Gesetzliche Arbeitslosen-, Renten- und Pflegeversicherung. Es trifft aber auch für soziale Leistungen, wie etwa das ALG II, die Sozialhilfe, das Wohn- und Kindergeld, das BaföG, das Erziehungs- und Elterngeld zu. Bei den meisten Vorschlägen werden die Leistungen der Kranken- und Unfallversicherung nicht durch das bedingungslose Grundeinkommen ersetzt. Einige plädieren für eine Grundversicherungspflicht und pauschalen Prämien, andere für ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem. Manche sehen staatliche Leistungen bei besonderer Bedürftigkeit vor, wie etwa bei Behinderungen, besonderen Lebenslagen oder Kosten der Unterkunft. Das bedingungslose Grundeinkommen ersetzt den traditionellen Sozialstaat nicht vollständig.
Neben dem harten Kern der staatlichen Transfers unterscheiden sich die Vorschläge darin, wie sie das steuerliche, soziale und arbeitsmarktpolitische Umfeld gestalten wollen. Die größte Hürde für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die Finanzierung. Ein Teil der Mehrausgaben soll durch den Wegfall von staatlichen Sozialausgaben finanziert, der größere Rest über höhere Steuern aufgebracht werden. Bei der Einkommensteuer wird meist eine Flat Tax (einstufiger Einkommensteuertarif mit konstantem Grenzsteuersatz) befürwortet. Eine breitere Bemessungsgrundlage durch weniger steuerliche Ausnahmetatbestände soll den Anstieg der Steuersätze im Zaum halten. Die notwendigen Steuersätze hängen von der Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens ab. Sie liegen für Deutschland zwischen 50 und 80 %. Höhere Konsumsteuern sind eine Alternative. Das würde es notwendig machen, die Sätze für die Mehrwertsteuer signifikant anzuheben. Im Gespräch sind Sätze bis zu 50 %.
Unklar ist, wie der Arbeitsmarkt in der neuen Welt eines bedingungslosen Grundeinkommens aussehen soll. Viele Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens glauben, dass uns über kurz oder lang die Arbeit im gewerblichen Bereich ausgehen wird. Es sei notwendig, dass wir schon heute die Weichen stellen sollten, um andere Formen gesellschaftlich ebenfalls wertvoller Tätigkeiten in der Familie, im Ehrenamt oder in der Kunst den Weg zu bereiten. Erst ein bedingungsloses Grundeinkommen mache die Menschen frei vom Zwang zur Erwerbsarbeit. Wo allerdings Erwerbsarbeit notwendig sei, sollen hohe Mindestlöhne ein auskömmliches Einkommen garantieren. Andere Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens sehen diese Vorschläge als weltfremd an. Sie plädieren für eine grundlegende Deregulierung des Arbeitsmarktes. Mit dieser Art der Arbeitsmarktpolitik wollen sie die auch künftig notwendige Erwerbsarbeit forcieren.
Wie wirkt ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens nehmen die Ökonomie nicht ernst. Eine wichtige ökonomische Erkenntnis ist seit Generationen: Institutionelle Arrangements setzen Anreize für menschliches Verhalten. Das gilt auch für institutionelle Designs staatlich garantierter Einkommen. Alle distributiven Versuche, ein universelles soziales Existenzminimum zu garantieren, haben allokative Risiken und Nebenwirkungen. Es gibt keine institutionelle Lösung, die diesen Zielkonflikt vollständig ausräumt. Allerdings lassen sich die allokativen Fehlentwicklungen in Grenzen halten, wenn die begünstigten Individuen eine Gegenleistung für die staatlichen Transfers erbringen müssen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen reißt diese Schranke mutwillig ein. Das „Tischlein-deck-dich-Spiel“ erodiert die wirtschaftliche Basis. Ein bedingungsloses Grundeinkommen zerstört sich selbst.
Wirtschaftliches Wachstum fällt nicht wie Manna vom Himmel. Es erfordert zumindest dreierlei: Arbeiten, sparen und investieren. Ein bedingungsloses Grundeinkommen senkt die Anreize drastisch, einer gewerblichen Arbeit nachzugehen. Die Erfahrung zeigt, großzügige Leistungen der Arbeitslosenversicherung verringern die Bereitschaft zu arbeiten spürbar. In Deutschland sind viele Arbeitslose nur bereit, wieder eine angebotene Arbeit aufzunehmen, wenn sie spürbar besser bezahlt wird als die Arbeit, die sie vor der Arbeitslosigkeit hatten. Das gilt vor allem für Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation. Der soziale Mindestlohn wirkt. Neue empirische Untersuchungen zeigen, dass in den USA ein Großteil des persistenten Anstiegs der Arbeitslosigkeit in der „Großen Rezession“ auf großzügigeren Leistungen der Arbeitslosenversicherung beruht. Schon die relativ geringen Leistungen des ALG I und ALG II verringern somit die Bereitschaft zu arbeiten spürbar. Ein viel üppiger ausgestattetes bedingungsloses Grundeinkommen würde die Anreize zu arbeiten drastisch verringern. Vor allem im unteren Einkommenssegment einfacher Arbeit würden die Arbeitsanreize massiv zerstört.
Eine solche Entwicklung wäre für die Entwicklung des Wohlstandes fatal. Schon heute klagen über 15 % der deutschen Unternehmen über einen Engpass an Fachkräften. Der demographische Wandel wird dieses Problem künftig noch weiter verschärfen. Vor allem gebildetes Personal in den MINT-Fächern fehlt an allen Ecken und Enden. Das IW Köln geht davon aus, dass sich für die Unternehmen bis zum Jahr 2030 eine Lücke von über 1,8 Millionen MINT-Absolventen auftun wird. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens würde die negativen Anreize auf Bildung und Arbeitsangebot verstärken. Der Mangel an Fachkräften würde weiter zunehmen. Eine wichtige Grundlage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen würde angegriffen. Das „Geschäftsmodell Deutschland“ käme ins Schleudern.
Im Schlaraffenland eines bedingungslosen Grundeinkommens ändert sich auch das individuelle Sparverhalten. Sinken die Anreize zu arbeiten, geht auch die Fähigkeit zurück zu sparen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen reduziert aber auch die Neigung für die Zukunft vorzusorgen. Der Staat nimmt den Individuen diese Aufgabe ab. Die „komfortable Stallfütterung“ (Wilhelm Röpke) erzieht zur Unselbständigkeit und führt zum Verlust der Freiheit. Das gilt für alle, vor allem aber für untere Einkommensschichten. Ist das bedingungslose Grundeinkommen allerdings so großzügig bemessen, dass es – wie in der Schweiz gefordert – über dem Median-Einkommen liegt, befällt das Virus der „Faulheit“ auch die Mittelschicht. Damit ändert sich das individuelle Sparverhalten flächendeckend. Ein bedingungsloses Grundeinkommen eicht die Gesellschaft auf Konsum. Die Anreize verkümmern, zu arbeiten, zu sparen und zu investieren.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen verändert das investive Verhalten. Vor allem junge Arbeitnehmer hätten kaum noch Anreize, in Humankapital zu investieren. Besser bezahlte Beschäftigungen rücken in weite Ferne. Damit fehlt Unternehmen die Humankapital-Basis für Innovationen. Explodierende Steuern legen sich wie Mehltau auf Wachstum und Beschäftigung. Höhere direkte Steuern drücken die individuelle Bereitschaft, in Humankapital zu investieren. Sie tragen auch mit dazu bei, dass Investoren in Realkapital das Land in Scharen verlassen. Der innovative Schwung erlahmt, produktive Arbeitsplätze gehen massenhaft verloren. Höhere Konsumsteuern sind kein Ausweg. Auch sie belasten das wirtschaftliche Wachstum. Die Anreize der Arbeitnehmer wachsen, in die Schattenwirtschaft abzuwandern. Nur am Rande sei erwähnt: Unerwünschte distributive Nebenwirkungen pflastern den Weg höherer Konsumsteuern.
Ende der Mängel des Sozialstaates?
Das alles wissen die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens natürlich, wenn sie ökonomisch nicht auf den Kopf gefallen sind. Das Argument, dass mit einem solchen Schritt der verteilende Sozialstaat transparenter würde, ist zweifellos richtig. Auch das Ärgernis nicht aufeinander abgestimmter Leistungen würde beseitigt. Ein Pluspunkt wäre sicher auch, dass kostspielige Kontrollen wegfallen würden. Die Kosten der Sozialbürokratie könnten sinken. Das alles gilt aber nur, wenn das bedingungslose Grundeinkommen den traditionellen Sozialstaat ersetzen würde. Tatsächlich zeigen die verschiedenen Vorschläge aber etwas anderes. Auch bei einem bedingungslosen Grundeinkommen sollen wesentliche Teile der Kranken- und Pflegeversicherung erhalten bleiben. Auch weitere individuell abgestimmte Leistungen in bestimmten Lebenslagen sind vorgesehen.
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